Elke Krasny

Für den Katalog ‚CLOSE ENCOUNTERS, Wien*Bratislava*Budapest‘, KulturAXE, 2008

Wie wir einander, und das Wort liefert den Schlüssel zur tieferliegenden Struktur der Frage, ein-ander, zwischen der Konstruktion von dem Einen und den Anderen, begegnen können, ist im Kern eine zutiefst politische, ethische und theoretische Fragestellung. Möglichkeiten der Begegnung zu denken, die die zunehmend vorschneller verinnerlichten und somit strukturell wie selbstverständlich vorgezeichneten Bahnen von Repräsentativität und Ökonomisierbarkeit verlassen, ist ein politischer Anspruch an andere Orte und andere Zustände des Aufeinandertreffens. Für die Künste der Begegnung, Künste verstanden als Techne, möchte ich zwei räumliche Denkfiguren einander begegnen lassen. Immer ist es der Raum, der die Begegnungen erzeugt. Immer ist es der Raum, den die Begegnungen erzeugen. Die räumlichen Figuren, die ich als Ausgangsbasis für die theoretischen wie praktischen Möglichkeiten der Künste der Begegnung invozieren möchte, sind die der „Abschweifung” (Barthes 2007: 217) und der „Tactical Cartographies” (Institute for Applied Autonomy 2007: 29).

Wahrnehmung von Kunst als Begegnung ist eine Frage der Standorte und der Perspektiven, die wiederum als historische Standortproduktion einer Positionierung im Kanon gleichkommt. Die Zuschreibung von Bedeutung als kanonisierte oder im Zustand des ‚emerging‘ folgt den Logiken von Inklusion wie Exklusion. Fragen von Herkunft und Geschlecht sind die zentralen blinden Flecken der Tradierung und der Rezeption. Es geht um radikale Inklusion, nicht um selektive Exklusion. „Methode fetischisiert das Ziel als privilegierten Ort, zum Nachteil anderer möglicher Orte.” (Barthes 2007: 215) Ist das Ziel der Kanon, dann sind die benachteiligten Orte all die Positionen, die peripher bleiben, marginalisiert sind. Marginalität erzeugt Bedeutungshierarchien, die die Zentren stützen. Andere Kunst-Geschichten könnten andere Orte erzählen. Es ist eine Frage der Methode, besser gesagt der „Nicht-Methode: Einstellung des Reisens, der äußersten Wandelbarkeit (Unstetigkeit, Nektar sammeln). Man verfolgt keinen Weg, sondern führt vor, was man gerade gefunden hat.” (Barthes 2007: 215) Das Finden des Anderen setzt das Verlassen der immer schon gegangenen Wege voraus, impliziert jedoch nicht, den Weg völlig aufzugeben, sondern die Pluralität von Wegen als Fundstücke denkbar werden zu lassen. Künstlerbiografien lassen sich aus als Routen, als Wege über das Stationenspiel internationaler Wegmarken vorstellen. Sind diese Meilensteine erreicht und passiert, diffundieren eben diese Künstlerpositionen als globalisierte Merkzeichen allerorts.

Betrachtet man die Welt als eine Frage möglicher Standorte und ihrer eingeschriebenen Bedeutungslogiken für das Verfassen von Kunstgeschichten, für die Betrachtung künstlerischer Karriereverläufe, so ist das von Frederic Jameson beschworene Verräumlichen, sein „always spatialise”, ein hilfreiches Werkzeug, die Kartographie von Begegnungsmöglichkeiten als per se eingeschränkte zu erkennen. Zentren und Peripherien erweisen sich als die primären Merkzeichen historischer wie gegenwärtiger Routen. Ob Paris, Kassel, Venedig, New York, Köln, Shanghai, Istanbul, Sao Paulo oder Basel, die Namen beschwören eine Topografie der Effekte. Die Effekte, um die es geht, sind die der Wiedererkennbarkeit und der Valenz. Die in den Zentren der Kunst und den Bedeutungsmultiplikationsstationen der Biennalen oder Triennalen produzierten Namen diffundieren in die Kunsthallen und Ausstellungshäuser. Es ist nicht die Nähe, die für Begegnungen sorgt. Im Gegenteil, es ist die Zirkulation der Positionen, denen man begegnet. Die möglichen Anderswo nicht minder aktiver lokaler Kunstproduktivität fallen unter die internationale Wahrnehmungsschwelle. Lokale Nähe sorgt nicht unbedingt für Austausch.

Im geografischen Dreieck von Bratislava, Budapest und Wien wird heute betont und wiederholt die Nähe durch die historische Konstellation der österreichisch-ungarischen Monarchie beschworen, die sich bei näherer Betrachtung in mehrfacher Hinsicht als trügerische Verkürzung erweist. Zum einen blendet der Verweis auf eine gemeinsam geteilte Vergangenheit aus, welche ungeteilten Vorstellungen voneinander diese Vergangenheit weitgehend bestimmen. Die Dekolonisierung der Verhältnisse des Denkens der Relationen zueinander hat die Konstellation der ehemaligen Teile der österreichisch-ungarischen Monarchie (noch) nicht erreicht. Machtverhältnisse und Identitätszuschreibungen sind von paternalistischem Denken einer überkommenen Zentralitätsvorstellung geprägt, die Wien für sich als selbstverständlich eingenommene Bedeutung ständig geneigt ist zu beanspruchen und sich damit den kulturellen Wirklichkeiten einer global vernetzten Welt verschließt. Die Nähen sind imaginierte oder suggerierte, die in der Realität durch das eingeschlossene, leere Dreieck, das die drei Städte zueinander bilden, treffender ausgedrückt werden, denn durch die behaupteten direkten Linien des Kontakts. In der gesuchten Selbstkonstruktion sieht sich Wien spätestens seit der Expo’58 in Brüssel mit dem, von Karl Schwanzer in der Form der Brücke mentalitätsgeschichtlich kongenial gelösten Pavillon wieder als Brückenkopf, als Mittler zwischen Ost und West. Dieser Selbstbehauptung steht eine kulturelle Erfahrungsarmut des geografisch Nahen gegenüber. Der heute geteilte Raum ist ein globaler, nicht jedoch einer, der in der physischen Nähe seine Attraktionszentren oder Attraktionsperipherien findet.

Kontakt und Konflikt schließen einander nicht aus, im Gegenteil. Beide bedürfen der Begegnung und der Artikulation. Im Jahr 1910 gingen zwei amerikanische Männer auf Forschungsreise nach Europa. Robert Ezra Park, Pionier der Mikrosoziologie und der Urban Studies, reiste gemeinsam mit Booker T. Washington, Pädagoge, Sozialreformer und Bürgerrechtler, um Minder- und Mehrheitsverhältnisse zu studieren. Das Studienobjekt ihrer Wahl war die österreichisch-ungarische Monarchie. In deren Heterogenität sahen sie das Vergleichspotenzial zur amerikanischen Einwanderergesellschaft mit seinen Spannungsverhältnissen. (vgl. Makropoulos 2004: 50) „Unser Interesse galt rassischen Problemen und der Bauernschaft, und Österreich bot sich uns mit seiner gemischten Bevölkerung als Ort an, wo beides gut untersucht werden konnte.“ (Baker 1981: 267) Dies verdeutlicht eine Denkfigur, die es auf das Heute zu projizieren gilt.

Gegen die Homogenisierung von plakativer Alltagsästhetik und sich ausweitender Konsumgüterkultur ließe sich als Gegenpol künstlerische Produktion als Mimesis kultureller Heterogenität begreifen, die den Heterogenitäten der Alltagswirklichkeiten im Kern näher ist als die scheinbare Gleichheit zirkulierender Markenwelten. Könnte man sich zu einer anderen Argumentationsstrategie der Begegnung aufraffen, die die Brüche und Risse, die Grenzlinien und Trennungen in den Fokus der Städterelationen Bratislava, Budapest und Wien stellt, dann wäre die leere Mitte des Dreiecks ein ebenso spannendes und ernst zu nehmendes Untersuchungsobjekt der Heterogenitäten des Jahres 2008 wie jenes, zu dem Park und Booker 1910 aufgebrochen sind.

Die Möglichkeit der Begegnung ist eine Frage von Nähe und Distanz. Wie muss der Rhythmus von Zeit und Ort beschaffen sein, um Begegnungen zu ermöglichen? Lassen sich Formen des Begegnens imaginieren, die der Topologik von Karriereverlauf und Unterworfenheit unter die immergleichen Logiken von Bedeutungszuschreibung nicht untergeordnet sind? „Diese neue Rhetorik der Nicht-Methode hat ein unbeschränktes Recht auf Abschweifung. Tendenziell wäre sogar ein Werk, eine Vorlesung vorstellbar, die aus nichts als Abschweifungen bestünde.” (Barthes 2007: 217) Ich imaginiere die Möglichkeiten der Begegnung als Format der Abschweifung, die Mischung von Vertrautem und Unvertrautem, von Nähen und Distanzen, von unterschiedlichen Qualitäten, von Stilen und Widersprüchen. Schließt man die Harmonisierung der einen Kunst-Geschichte aus, so folgt die Dissonanz der Abschweifung.

Dort, wo man auf zentralisierte Bedeutung mit globaler Diffusionskraft trifft, sind die vielen Anderswo möglicher Bedeutungsproduktion immer schon verloren gegangen. Die Eventgetriebenheit der Locations hindert das Evenire, das Werden im Begegnen. Die Begegnung als transformierende Kraft, als widerständiger, ungezähmter, rebellischer, verstörender, einmaliger Moment, verliert sich im vorgezeichneten Jahresrhythmus von Biennalen, Triennalen und Messebeteiligungen. Die Frage nach dem Außerhalb, der möglichen Gleichzeitigkeit von Innerhalb und Außerhalb, der Möglichkeit, ohne Innerhalb und Außerhalb zu denken, ist eine Frage, die das Betriebssystem Kunst in Frage stellt. Imaginiert man die Begegnung als Austausch, als Form des Gebens und des Nehmens auf beiden Seiten, so lässt sie alle, die sich begegnet sind, verändert zurück. Die Veränderung als „Transformation” im Sinne Michel Foucaults zu verstehen, als „Werden” im Sinne von Gilles Deleuze zu evozieren, bedeutet, an das einander Begegnen können einen anderen Anspruch zu stellen, als den der immer gleich beschrittenen, vertrauten, vielfach begangenen und somit eindeutig vorgezeichneten Wege.

„Tactical Cartographies” sind „Less a methodology than an orientation, it is fundamentally pragmatic, utilizing any and all available technologies, aesthetics and methods as dictated by the goals of a given action. Tactical media are often ephemeral and event-driven, existing only as long as they continue to be effective.” Das erinnert an die Kraft der Begegnung, die im Kern auf ihre Unwiederholbarkeit insistiert. Gegen Routinisierung die Möglichkeit der Begegnung zu beschwören, erzeugt andere Konstellationsräume des Aufeinandertreffens von Positionen. Im Übertragen des kartographischen Aktivismus des Institute for Applied Autonomy auf die Erzeugung kunsthistorischer Traditionsbildung und gegenwärtiger Kunstdistributionsmechanismen, erscheint der Akt der verräumlichenden Denotation von Positionen als Methode, Zirkulationszusammenhänge von Macht und Bedeutungsproduktion offen zu legen. In einem nächsten Schritt ließe sich die Abschweifung als Nicht-Methode des Kartographierens von Kunst als Begegnungsmöglichkeit imaginieren, um so die „Close Encounters” zu erzeugen, die als Möglichkeitshorizont des Austausches mit dem Anderen imaginierbar werden.

Der kulturpolitische Anspruch, den das Projekt „Close Encounters” auf einer theoretischen wie imaginären Ebene entfaltet, ist ein hoher. Geht es doch um nichts anderes, als die Lokalisierung von Positionen in der Auseinandersetzung zu reflektieren, um sie in die Lokalität des einander begegnen Könnens zu überführen. Wer wie auf wen treffen kann, ist eine Frage des Wann. Wann wer auf wen trifft ist eine Frage des Wie. Dies führt uns zurück in den Raum. „Ein Raum wird in Felder aufgeteilt = eine Topik (Raster von Orten). Es bleibt jedem selbst überlassen, sie zu füllen; ein Spiel zu mehreren: Puzzle. Ich bin der Hersteller, der Handwerker, der die Stücke ausschneidet. Sie sind die Spieler.” (Barthes 2007: 216) Verkehrt man alle Positionen, werden die Felder, Kräfte und Relationen neu gemischt. Die Stücke und ihr Eigenleben, der verschwundene Handwerker, der die Spieler als relationale Stückeerzeuger in das Spiel freisetzt. Dann beginnen die Begegnungen sich als Möglichkeiten tiefgehend zu verändern.

Elke Krasny  ist Museumspädagogin, Künstlerin und Autorin. Für ihr Kinderbuch erhält sie 2006 den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis. Elke Krasny hat Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie studiert. Sie lebt und arbeitet als Kulturtheoretikerin, Publizistin, Ausstellungsmacherin und Künstlerin in Wien

Stano Buban, Hasta La Muerte