Über Grenzen, Einigungen und Verwirrspiele hinaus
Caroline Charlotte Kaiser
Erschienen in: Das Handbuch der EUROPAREGION,
2002 Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.
Meine eigene europäische Geschichte beginnt mit einem Verwirrspiel äußerer Attribute. War es eine Laune der Natur, dass seit Generationen hindurch die schwedische Familie meiner Mutter mit dem Attribut dunkler Haarfärbung bedacht worden ist, welches vor vielen Jahren in etwa dem Exotikgrad blonder Japaner entsprach? Oder war es tatsächlich, wie es unsere Familienchronik überliefert, eine direkte Folge der Hunnenstürme über Europa, die ziemlich ‚fremdländisch‘ aussehende Menschen dazu bewog um 500 n.Chr. in den hohen Norden zu ziehen um dort den Grundstein unserer Familie zu legen? Mein Vater wiederum, in Warnsdorf (Böhmen) und in Wien aufgewachsen, war blond und groß, und verhalf mir so auf Umwegen doch wieder zu einem, nach gängigem Schemata, schwedischem Erscheinungsbild. Diese familiären Umstände sorgten jedes mal für Verwirrung wenn die Gespräche auf nationale Identitäten kamen und man von mir wissen wollte, wo ich herkam.
Jedenfalls fühlte ich mich immer schon auf eine eigene Weise ‚multi- oder transnational‘. Vielleicht eine Grundprägung, die mich zunächst zu den Vereinten Nationen führte, dann nach Südafrika und wieder zurück in Wien an die Seite eines Künstlers aus der Slowakei, der seines an Verwirrung einbrachte, mit ungarischem Namen, slowakischem Geburtsort, deutschem Reisepass und österreichischem Führerschein, einer Kombination, die oftmals an Grenzübergängen für Diskussionen sorgte.
Und Grenzen sind hier das Thema, deren Abbau und Überwindung auf dem Weg in ein ‚geeintes‘ Europa. Doch was bedeutet ein geeintes Europa, welche Europa-Modelle stehen zur Debatte? Der Abbau einzelner politischer und wirtschaftlicher Grenzen innerhalb Europas impliziert gleichzeitig neue Außengrenzen und Verfestigungen. Die Komplexität und Vielschichtigkeit dieses Themas stellt eine große Herausforderung dar, bedingt neue Denkmodelle und die Bereitschaft zu einem offenen, gleichberechtigten und von gegenseitiger Inspiration getragenen Dialog. Kunst- und Kulturprojekte bieten hier die Möglichkeit mehrdimensionaler Zugänge und entwerfen zunehmend neue translokale ‚Geografien‘. So wurde z.B. 1997 auf der Documenta X vom „Syndicate Netzwerk” (einer 1995 in Rotterdam gegründeten Initiative) ‚Deep Europe‘ ausgerufen, eine Metapher, die der bulgarische Künstler Boyadijev definierte als: „Europa ist am tiefgreifendsten, wo es die meisten überlappenden Identitäten gibt.” Ein Konzept, das für ein neues Verständnis der unterschiedlichen heterogenen, kulturellen Tiefenschichten und Identitäten in Europa eintritt.
Zudem leben wir heute in einer Welt, die zunehmend von Mobilität und Zirkulationen der Arbeit, Information und Kapital geprägt ist. Die ständige Zunahme dieser Flüsse und Zirkulationen führt sowohl zu Dezentralisierungen als auch zu neuen Grenzziehungen, wobei technische Standards, der Zugang und die Kontrolle über Wissen und Information die neuen Fronten bilden. Welche Rolle spielen hier noch geopolitische Grenzen?
14 Jahre nach der Wende 1989 in Osteuropa ist das Thema im Kunst- und Kulturaustausch ‚Ost-West‘ aktueller denn je. In Tagungen, Round-tables und Studien wird hinterfragt wie stark nationale Grenzen noch wirken, oft auch über kurze Distanzen hinaus, wie sie überwunden werden können, und ob Netzwerke Lösungen sind oder zu weiteren Marginalisierungen führen.
Als die Grenzen 1989 fielen, erfuhren wir zunächst die Euphorie über die Medien. Am Tag nach der Fernsehdokumentation bekamen wir in unserer Wiener Wohnung überraschend Besuch von ehemaligen Künstlerkollegen aus der Slowakei; es war ihre erste ‚freie‘ Reise nach Österreich, und die wurde mit großer Freude zelebriert. Somit wurde die Medieneuphorie sehr persönlich, und ich konnte erstmals Geschichte ‚fühlen‘. Es folgten viele Treffen, und nach dem Besuch einer Großinszenierung österreichischer Kunst in Bratislava, das dringende Gefühl einer gemeinsamen Aktion.
Das war der Beginn unserer Kunst- und Kulturprojekte, die direkt nach der Wende 1989 in Wien und Bratislava begonnen haben, und die schließlich zur Gründung des Vereins KulturAXE, transnationale Kommunikation & Kunstaktion, geführt haben.
Unsere erste große Ausstellung nützte die neue offene Grenze zwischen Österreich und der damaligen Tschechoslowakei um in beiden Ländern gemeinsam Werke zu präsentieren: „Kosice – Bratislava – Wien, nach 1989” fand in drei Stationen statt, in Kosice, in der Kunsthalle Bratislava und im Heiligenkreuzerhof Wien. Die nächste Ausstellung „DIAGONALE” wurde 1991 in der Stadtgalerie Bratislava veranstaltet. Im selben Jahr begann auch das erste Sommersymposion in der Slowakei.
Die Projekte und Aktivitäten von KulturAXE sind auf grenzüberschreitende Kommunikation ausgerichtet, auf Begegnungen und Kooperationen. Die bisherigen Veranstaltungen fanden in Österreich, Slowakei, Ungarn und Italien statt mit Partnern aus Europa und außer-europäischen Nationen. An den Sommersymposien in der Slowakei und Ungarn haben rund 650 TeilnehmerInnen aus allen Kontinenten teilgenommen sowie 105 StipendiatInnen, davon 80 aus Osteuropa.
LOD 2003, „Landscapes of Desire” ist das 13. Internationale Kunstsymposion und findet erstmals in Polen statt. Das Symposion versteht sich als Plattform für Zusammenarbeit und transkulturellen Austausch in einem breiten Spektrum künstlerischer Zugänge. Von einer Festung in Polen aus „operierend”, wird LOD 2003 die Entwicklung heutiger Festungen thematisieren und die Schwerpunkte auf Neuen Nomadismus, Migration und Mobilität setzen, sowie Projekte vorstellen, die mit neuen Konzepten räumlicher Organisation arbeiten.
Weiters wurde Anfang dieses Jahres unsere neue Plattform für mögliche Utopien in Wien eröffnet ‚CATA‘ (Communication.Arts.Technology.Architecture) für interdisziplinären Austausch und Zusammenarbeit in den Bereichen Kommunikation, Kunst, Technologie und experimenteller Architektur. Zielsetzung ist die gemeinsame Konzipierung und Umsetzung konkreter Projekte, die transdisziplinär und transnational ausgerichtet sind. Das erste Projekt ist die Modellentwicklung einer mobilen Kunst- und Kommunikations-Struktur auf Zelt-Basis mit Partnern aus Ungarn.
So hat meine europäische Geschichte mich auf einen transnationalen Weg gebracht, und es ist fast nicht mehr wichtig, ob es die Hunnen, Böhmen oder doch die Schweden waren, denen ich mein Aussehen verdanke.