Caroline Charlotte Kaiser, KulturAXE, 2002
Neuer Nomadismus
In unserer Zeit wird der neue Nomadismus gelebt und propagiert – in der Arbeitswelt, im sozialen Umfeld, in Wohnstrukturen und Städtelandschaften. Dabei manifestiert sich das gleiche Phänomen des neuen Nomadismus, einerseits als Arbeitsnotwendigkeit, Trend, Fashion und gelebte Sehnsucht und andererseits als erzwungene Migrationen, massenhaften Fluchtströmungen und Völkerwanderungen. Globalismus, Vernetzungen, ständige Weiterentwicklungen der Kommunikations- und Informationstechnologien als Auslöser und zugleich Instrumente einer permanenten ‚Mobilmachung‘ gehen einher mit einer Fülle von Projekten und Studien, wie die des Soziologen Michel Maffesoli ‚The Time of the Tribes‘ – sociality today: the wandering mass-tribes (1), Paolo Soleri Arcosanti, 1970 (2) ‚Shifting populations will be the norm in the future: the human species is on the move.‘, Rem Kolhaas ..the generic city is always founded by people on the move, Ron Herron ‚Instant City: the metropolis would arrive like a circus, operate for a period of time, and then move on‘ (3), Hou Hanru & Hans Ulrich Obrist ‚Cities on the Move‘ … the new cultural identities are claimed to be open, unstable, ever-changing, hybrid and transgressive of established boundaries (4), Costa Vece ‚The city of dream and hope‘, 2001: ‚temporäre Architekturen als Orte der Begegnung‘ bis hin zum Begriff ‚Bewegung‘ als neue Kategorie der kulturwissenschaftlichen Stadtforschung.
Grenze und Flüsse / Zirkulationen
Ein zentrales Thema ist hier die Entwicklung heutiger Festungen, die von Gebäuden, bis zu ganzen Arealen und Nationen reichen. Festungen implizieren Begriffe wie ‚Grenzen, Abgrenzungen, Wälle‘, Begriffe, die in engen Bezug stehen zu den Schlüsselwörtern der Kultur und Gesellschaft in der transnationalen Debatte des 21. Jahrhunderts, wie ‚Flüsse‘ und ‚Hybriditäten‘ (‚Flows, Boundaries and Hybrids: keywords in transnational anthropology‘, Ulf Hannerz, Prof. Of Social Anthropology, University of Stockholm). Die Grenze als Metapher für urbanes Wachstum, wie es der urbane Geograph Neil Smith sieht, die Grenze von heute, eine Grenze der Profitabilität? Kulturelle Grenzen (5), ‚Borderlands‘, Grenzen des Wissen (6), unsichtbare Macht-Strukturen? Einige der bedeutendsten Prozesse, die in diesem Kontext zu untersuchen wären, sind die Strategien und Mechanismen, die zur Schaffung und Erhaltung der Grenzen führen, die Ausschließungsmechanismen und Marginalisierungsstrategien im ‚Infospace‘ und heutigen urbanen Räumen (7) und das Zusammenspiel von ökonomischen Konzentrationsprozessen und Hypermobilität. „Die globale Stadt ist hier symptomatisch, mit hohen Konzentrationen von hypermobilen dematerialisierten Finanzinstrumenten und den enormen Konzentrationen von Material und ortsgebundenen Ressourcen, notwendig um die ersteren in einer Sekunde um den Globus zirkulieren zu lassen. (Saskia Sassen, ‚the spatialities and temporalities of the global‘)”. Die Mobilität des Kapitals als eine der Flüsse charakteristisch für die Gesellschaften des späten 20. Jahrhunderts (Flüsse des Kapitals, Arbeit, Güter, Information und Bilder) (8).
Infowars, soziale Netzkriege
„Wir sind im Krieg.” Meint John Vidal in seinem Artikel ‚The world@war‘ (The Guardian, 2000) (9), „Nicht dieser Art, die Armee gegen Armee stellt, die Blut vergießt, Wirtschaften zerstört und Regierungen bankrottiert, sondern jene, die das US Militär ’soziale Netzkriege‘ nennt.” Und Kommandant Marcos der Zapatistas-Bewegung (10) meint, dass „nach dem kalten Krieg, der vierte Weltkrieg begonnen hat” (11), bezugnehmend auf die neuen Netzwerke der Opposition, welche mit unglaublicher Geschwindigkeit der Mobilisierung auf globale Protest-Themen reagieren. „Netzkriege sind Informationsbezogene Konflikte auf weiter Ebene zwischen Nationen und Gesellschaften…. sie können Diplomatie, Propaganda und psychologische Kampagnen einbeziehen, Kämpfe um die öffentliche Meinung und den Zugang zu Medien und Berichterstattung.” (John Arquilla) (12). Unsere zivile Gesellschaft befindet sich in einem Zustand der permanenten Mobilmachung, „… in dem nicht mehr Staatsgrenzen und Rechtssysteme die Fronten bilden, sondern technische Standards, ein Kampf, in dem die Macht des Wissens als gewinnbringendes Monopol seiner Verteilung und Vermittlung bewirtschaftet wird.” (Gerfried Stocker, Ars Electronica) (13). Was ist der Status der Kunst in einem Status des Krieges? Verweigerung, Verneinung, Rückzug oder Entwicklung post-utopischer Visionen? Reformulierungen kartographischer Darstellungen, von Wissens- und Informations-Strukturen oder Aneignung der Kriegs-Strategien in Kunst- und Kulturkonzepten (14)?
Modelle neuer räumlicher Organisation, Schaffung von Environments -KulturAXE
Zentrale Themen der KulturAXE sind der Abbau mentaler und realer Grenzen, die Erforschung neuer Kartographien und deren Umsetzungen in Kunstprojekten. Wir leben in einer Welt, geprägt von ständigen Neuverhandlungen und Veränderungsprozessen von Grenzen. Führen Hypermobilität, zunehmende Bewegungen, Dislozierung von Lebensstilen zu einer Dezentralisierung unserer Welt oder entstehen dadurch neue Grenzen und Konzentrationsprozesse, werden die Zentrum-Peripherie Beziehungen noch markanter? Sind Netzwerke eine Antwort oder ‚geschlossenen Universen‘? Was ist der Status der Kunst in einem ‚Status des Krieges‘ – im Kampf um sozialen Raum, Produktion von Information und Wissen sowie um Repräsentation der Realität?
In Reaktion auf die Bewegungen dieser Welt, hat KulturAXE in spezifischen Projekten folgende Denk- und Praxismodelle gewählt, die sich mit neuer räumlicher Organisation, Aneignung und Umwandlung von Raum und persönlicher Identität befassen:
- Schaffung temporärer Environments des ‚Lebens und Tuns‘ in CEE (Slowakei, Ungarn, Polen) bei unseren jährlichen Kunstsymposien mit KünstlerInnen, StudentInnen und TeilnehmerInnen aus Europäischen und außer-Europäischen Nationen,
- Entwicklung von Stipendienprogrammen, vor allem für KünstlerInnen und KunststudentInnen aus CEE und Nationen mit Reisebeschränkungen,
- Dadurch Ermöglichung von Kontakten, die zu weiteren Projekten, Kooperationen, Netzwerken und fortdauernder Kommunikation führen,
- Integration der Themen in den Workshops, mit Schwerpunkt auf den Mechanismen der Informationsvermittlung und Produktion von Öffentlichkeit,
- Präsentation von Kunstprojekten und Konzepten, die sich mit neuer räumlicher Gestaltung auseinandersetzen, mit Grenzüberschreitung und Mobilität,
- Vorlesungen, Gastvorlesungen und offenen Diskussionsforen,
- Schaffung des transnationalen nomadischen Labels LOD, LANDSCAPES OF DESIRE (2002)
- Gründung der Plattform SISONKE ‚togetherness‘ für einen nachhaltigen Austausch zwischen Afrika und Europa in gegenseitigem Respekt (2006)
- Initiierung der Webplattform Cross Continental Action Platform with Machfeld: http://www.cca-p.net/
REFERENZEN
(1) Michel Maffesoli, THE TIME OF THE TRIBES, The Decline of Individualism in Mass Society, Sage Publications, 1996, (Le Temps des tribus, Méridiens Klincksieck, Paris, 1988): „Today social existence is conducted through fragmented tribal groupings – in short, we live in the time of the tribes. …….This ‚affectual‘ nebula leads us to understand the precise form which sociality takes today: the wandering mass-tribes. Indeed, in contrast to the 1970s- with its strength such as the Californian counterculture and the European student communes – it is less a question of belonging to a gang, a family or a community than of switching from one group to another….in fact, in contrast to the stability induced by classical tribalism, neo-tribalism is characterized by fluidity, occasional gatherings and dispersal.”
(2) Paolo Soleri, creation of Arcosanti in 1970. ‚Shifting populations will be the norm in the future: the human species is on the move. When Asia and Africa follow suit, even at the exclusion of forcible shifts (political, economical, cultural and racial) millions of people will expect shelter and services in the most likely and unlikely places.‘
(3) Ron Herron: „The design for Instant City brought together trailer units, inflatables, lightweight structures, gantries, towers, support systems, scaffolding, audiovisual displays, projection equipment and electronic display systems. The metropolis would arrive like a circus, set up shop, operate for a period of time, and then move on.”
(4) Cities on the Move, 1996, Hans Ulrich Obrist und Hou Hanru – künstlerische Projekte in Relation zur Expansion der Städte in Asien, CITIES ON THE MOVE, Ausst.Kat. Secession, 1996
(5) Ulf Hannerz Department of Social Anthropology, Stockholm University, 1997, (FLOWS, BOUNDARIES AND HYBRIDS: KEYWORDS IN TRANSNATIONAL ANTHROPOLOGY) : „We could argue that when the cultural flow has somehow stopped somewhere, where there is a discontinuity in the distribution of meanings and/or meaningful forms among individuals and social relationships, then we have identified a cultural boundary.”
(6) Ulf Hannerz Department of Social Anthropology, Stockholm University, 1997, (FLOWS, BOUNDARIES AND HYBRIDS: KEYWORDS IN TRANSNATIONAL ANTHROPOLOGY): „When as scholars we face the „frontiers of knowledge“, it is also this sense of the frontier as next to wilderness that takes hold of our imagination. On this side, the cultivated fields; on the other, the great unknown. And the sense of wilderness is still there as the idea of the frontier in the popular imagination now often shifts its locus, to urban life, to streets and alleys which seem beyond the reach of the organized centers of society. In other words, the urban frontier is an urban jungle.”
(7) Martha Rosler, NY, 1991, „If you lived here – the City in Art, Theory, and Social Activism”, Dia Art Foundation (Fragments of a metropolitan viewpoint): „Demoted to a site of surveillance and vehicular passage, the street is abandoned to maintenance services and the occasional spectacle. And increasingly, the street is a waste space left to the socially fugitive and the unhoused – those unable to buy or to serve.” „Formerly public spaces have thus been recoded as architectural interiors, overblown atria of Portmanesque hotels and of corporate headquarters, often incorporating lavish interior jungles and elaborate, full-time video surveillance systems. Similarly, the shopping mall, suitably internationalized and removed from its physical locale, has become the center of social life, despite the fact that it is a space emphatically removed from the public sphere, patrolled by private police and without benefit of, say, the right to freedom of speech or assembly. Sites of public entertainment are also increasingly commodified and restricted: stadia, „theme parks”, and preeminently, television.”
(8) Ulf Hannerz Department of Social Anthropology, Stockholm University, 1997, (FLOWS, BOUNDARIES AND HYBRIDS: KEYWORDS IN TRANSNATIONAL ANTHROPOLOGY): „Flows: Scott Lash and John Urry (1994: 4, 12), social theorists, suggest that late twentieth century societies are characterized by flows of capital, labor, commodities, information, and images; …….. Arjun Appadurai, proposed that one could see the „global cultural economy“ as involving the five dimensions of ethnoscapes, mediascapes, technoscapes, finanscapes and ideoscapes, one senses the parallels with comprehensive formulations such as that of Lash and Urry…”
(9) John Vidal, ‚The world@war‘, Wednesday January 19, 2000, The Guardian: „We are at war. Not the sort that pits army against army, that sheds blood, destroys economies and bankrupts governments, but what is being called by the US military „social netwars“. Little noticed and less analysed, they are being taken seriously as the possible style of future conflicts. Already they are beginning to shape the new international and national political agendas.”
(10) Zapatistas: Recognised as the first netwar. Within hours of the January 1994 armed uprising by revolutionaries in the desperately poor Mexican state of Chiapas, local, national and international support groups were being set up to counter the government’s propaganda war and further the cause of the rebellion. The government was put on the back foot, tried to respond, but has been forced to make substantial reforms.
(11) John Vidal, The globalisation debate, Sunday, December 5, 1999, The Observer: „…..new networks of opposition to free trade and neo-liberalism are forming to challenge national governments. ‚After the Cold War, the fourth world war has started,‘ says Commandante Marcos of the Zapatistas. The cry is now being heard around the world.”
(12) John Vidal, ‚The world@war‘, Wednesday January 19, 2000, The Guardian: „Netwar refers to information- related conflict at a grand level between nations or societies,“ says John Arquilla, one of the report’s authors. „It means trying to disrupt or damage what a target population knows, or thinks it knows, about itself and the world around it. A social netwar may focus on changing public or elite opinion, or both… It may involve diplomacy, propaganda and psychological campaigns, battles for public opinion and for media access and coverage.“
(13) Gerfried Stocker, ars electronica: „…these technologies, developed in the interest and logistics of war, are technologies of simultaneousness and coherence which put our civic society in a state of permanent mobilization, carried by the battle on the dominance of economical concentration processes, the fronts not being anymore national borders or juridical systems, but technical standards, a battle on the power of knowledge as profitable monopoly and its dissemination and conveyance.”
(14) Marko Peljhan, 1997, Command Communications and Control in Eastern Europe A View from Isolation; the following text includes a draft and a collection of notes for a lecture first presented at the LEAF conference in Liverpool in April 1997 : TOPICS – changing geopolitical and social circumstances in Eastern Europe and the world- unveiling of previously invisible divisions and political preferences- digital revolution – end of the analogue era, the last possible time to exert any kind of control over oppressive media and state structures.